
14.04.2021 | Den Kund:innen ein unvergessliches Einkaufs-Erlebnis anzubieten ist für jeden Händler:in das höchste Ziel. Diese Intention versucht man über individuelle Sortimente, dem eigenen Verkaufspersonal und durch originelle und einzigartige Verkaufsflächen/-räume zu erreichen. Authentisch und originell, emotional muss der Raum sein, in dem Kund:innen sich wohl fühlen, und gleichzeitig als Umsatzbringer fungieren. Auch das Thema Digitalisierung gewinnt immer mehr an Bedeutung. Wie sieht aber der Status quo der hiesigen Retail-Landschaft aus? Diesen und weiteren wichtigen Kernfragen gehen wir in unserem TM-Interview mit Jens Fischer, Kreativdirektor sowie Digital Expert des Retail-Planungs- und Kreativbüros ‚K.U.L.T.Objekt‘, auf den Grund.
Herr Fischer. Können Sie uns einen kurzen Überblick der Leistungen geben, die Sie bei K.U.L.T.Objekt und anbieten und welche Ziele verfolgen Sie bei Ihrer Arbeit?
Der Retail steht ja schon seit einiger Zeit vor der Herausforderung, nicht mehr nur Produkte ein- und zu verkaufen, sondern ein Sortiment zu kuratieren und zu inszenieren, den Kunden:innen dabei Erlebnisse zu zaubern und Mehrwerte zu bescheren, flexible und/oder temporäre Formate zu kreieren und zu realisieren, zugleich die eigene IT-Infrastruktur auf Vordermann zu bringen und sich parallel um Online-Verkaufskanäle und digitales Marketing zu kümmern. Alles in allem ist es eine Masse von Aufgaben und Themen, die vom ‚Handel‘ heute verlangt wird. Und die ein Einzelhändler so eigentlich gar nicht alle leisten kann, ohne sein Kerngeschäft aus den Augen zu verlieren. Dass ein Retailer die zusätzlichen Kosten und den Aufwand für ein eigenes Eventmanagement scheut, ist ja nachvollziehbar… Wir von K.U.L.T.Objekt sind vor rund drei Jahren mit der Division ‚von7‘ angetreten, um für diesen zunehmend multiorchestralen Anspruch die passenden Dienstleistungen anzubieten, zur Entlastung und Unterstützung des Einzelhandels. Wir glauben, es braucht diesen neuen Typus von Dienstleistern, der die ‚genetische Veranlagung‘ besitzt, mit dem ständigen Wandel umzugehen. Dienstleister:innen mit flexiblen Strukturen, agilen Prozessen, interdisziplinären Kompetenzen und digitaltechnologischen Know-how.
‚Go Phyigital‘ – im vergangenen Jahr hat sich in der Modebranche das Thema Digitalisierung zu einem der Kernthemen entwickelt. Viele sehen auch nach einem Ende der Corona-Krise die Vorteile darin, immer mehr digitale Welten mit physischen zu kombinieren. Wie sehen Sie die Entwicklung und wo können Sie beispielsweise mit von 7 weiterhelfen?
Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Es gibt ja auch vielen digitalen Unsinn, und viele Retailer haben die Erfahrung gemacht, dass man ein Konzept an der Digitalisierung auch zugrunde richten kann. Wie gesagt, ein mittelständischer Modehändler oder Filialist kann die vielschichtigen digitalen Aufgaben und Angebote alleine oft gar nicht bewältigen. Und muss er ja auch gar nicht: Man muss ja keine Kuh kaufen, wenn man Milch trinken will. Daher haben wir mit unserer Division von7 ‚Retail as a Service‘ auf- und ausgebaut. Unter dem Titel bieten wir verschiedene temporäre und mobile Flächenformate an, die ein Einzelhändler bei uns abrufen kann. Wir haben Grundformate wie den ‚Digital Pop-up-Store‘, unser ‚Retail Theatre‘, das ‚Destination Shopping‘ oder das Event-Sale-Format namens ‚[Re]Start‘ entwickelt. Einzelhändler:innen, die für sich neue Wege ausprobieren wollen, können das mit unseren Flächenformaten relativ unverbindlich ausprobieren, ohne zu großes Investment.
Wenn sie einen Event, eine integrierte oder externe Pop-up-Plattform, eine mobile Shopping-Aktion oder ähnliche planen, um ihr lokales Geschäft zu refreshen oder mit temporären Aktionen auf sich aufmerksam zu machen, buchen sie eines unserer Formate für einen beliebig langen Zeitraum. Und wir übernehmen alle damit verbundenen organisatorischen Abläufe inklusive Ein- oder Aufbau, Technik, digitaler Tools etc., sodass sich Händler oder Marke voll und ganz aufs Kerngeschäft konzentrieren können. Sie brauchen sich quasi nur noch um das Produktsortiment zu kümmern. Bei unseren Formaten spielt die digitale Ausstattung eine entscheidende Rolle, sprich, ohne digitale Toolbox wäre Retail-as-a-service nicht möglich. Die Grundformate sind flexibel und werden jeweils auf eine Marke personalisiert bzw. auf die Wünsche, Bedürfnisse und den Look des Retailers abgestimmt, sodass es ‚seins‘ wird.
Das Ausland bietet coole Retail- und Online-Shop-Beispiele. Im internationalem Vergleich: Wie ist der Stand des deutschen Handels in Bezug auf innovatives Retaildesign und Online-Kompetenz zu bewerten?
Aus unserer Sicht ist es gerade nicht so zielführend, nach den Leuchttürmen in internationalen Metropolen zu blicken. Was in Tokio, London und NY glänzt kann in Tübingen, Lübeck und Neustadt ohne weiteres scheitern.
Wo gibt es Verbesserungspotenzial und mit welchen Herausforderungen sehen Sie sich oftmals bei Ihren Beratungen bei Kund:innen konfrontiert?
Gerade im Modehandel, immer noch von gutem Mittelstand und tollen Unternehmer:innen und einer ausgesprochen diversen Kundschaft geprägt, erkenne ich, dass unter ‚Digitalisierung First‘ oft Mode und Individualität leiden. Ich würde mir wünschen, dass Retailer dem eigenen Erfahrungsschatz mehr vertrauen als den gestanzten Ratschlägen irgendwelcher Berater:innen. Die eigene Logik, die man aus seiner Historie und Erfahrung ableiten kann, ist der beste Ratgeber. Ein gutes Category Management, Strukturanalysen, Konzeptentwicklung sind die Basis – und dann prüfen, wo man steht und den eigenen USP ausbauen. Tante Emma hatte auch schon ihre Datenbank, die bestand aus Stift und Block. Und so wusste sie genau, wann wer Geburtstag hat, wen heiratet und wer mit wem verwandt war. Das war ihr USP. Ich kann nur raten, ‚Mode‘ wieder zu leben. Irgendwann haben die Kund:innen doch die Nase voll von Schlabberklamotten im Homeoffice.
Die Pandemie hat viele negative Seiten, die vor allem der hiesige Einzelhandel zu spüren bekommen hat. Läden mussten nach den neusten Hygienestandards umgebaut werden, viele Händler:innen nahmen sich Zeit, sich digitaler aufzustellen, um mehr Kunden/Kundinnen zu erreichen. Im Rückblick auf das vergangene Jahr: Welche positiven Erfahrungen konnten Sie bei Ihren Beratungen mitnehmen?
Wenn eine Boutique mit guter, treuer Stammkundschaft in der Pandemie-Zeit Instagram & Co. für sich zu nutzen gelernt hat, ihre individuellen Beratungsgespräche dann auf die sozialen Kanäle verlegt, ihre Kund:innen mit Hilfe des Smartphones durch ich Sortiment führt und ihrer Community die neuen Frühlingskollektionen mit Mail-Einladung und Insta-Live-Kanal schmackhaft macht, dann hat sie ja wohl alles richtig gemacht – digital und mit überschaubarem Aufwand. Auf größere Filialisten übersetzt wäre das schon eine viel komplexere Angelegenheit mit viel größerem Vorlauf, Perfektionsanspruch und Aufwand. Spontaneität und Geschwindigkeit sind klare Wettbewerbsvorteile.
Wie erreicht man das perfekte Shopping-Erlebnis physisch im Geschäft sowie digital?
Besonders Fashion-Retailer sollten nicht jedem digitalen Hype nachlaufen und nicht blind jeden Berater-Tipp beherzigen, sondern sich vor allem klarmachen, worin ihr Value Shopping besteht. Da geht es um Werte, um den besonderen Tick, der die Mode vom Mainstream abhebt, vielleicht um Nachhaltigkeit. Und dann entscheiden, wieviel und welches digitale Werkzeug sie dafür brauchen.
Bild oben: Jens Fischer
Bild unten: K.U.L.T.Objekt
