„Nachhaltigkeit ist kein Widerspruch zu Profit“ – OEKO-TEX® CEO Dr. Alfred J. Beerli im Interview
Seit Juni 2024 frisch an der Spitze von OEKO-TEX®, bringt Dr. Alfred J. Beerli mehr als nur Führungserfahrung mit – er ist ein Innovator mit scharfem Blick für die digitale Zukunft der Textilindustrie. In unserem Gespräch gibt er einen offenen Einblick in die Herausforderungen, die mit komplexen Lieferketten und immer strengeren gesetzlichen Anforderungen einhergehen. Mit einer klaren Vision für nachhaltige Prozesse und soziale Gerechtigkeit zeigt er, wie OEKO-TEX® die Branche nicht nur begleitet, sondern prägt. Beerli spricht über das Zusammenspiel von Technologie, Umweltbewusstsein und die Kunst, auch im Sturm der Veränderungen Kurs zu halten.
Herr Dr. Beerli, Sie sind nun seit kurzem Geschäftsführer bei OEKO-TEX®. Welche Aufgaben hatten Sie zu Beginn und wie haben Sie sich in Ihre neue Rolle eingefunden?
In den ersten Wochen hatte ich die Gelegenheit, das Team kennenzulernen, das mich mit seinem Engagement tief beeindruckt und inspiriert hat. Es ist großartig zu sehen, wie viel Potenzial OEKO-TEX® durch die bereits etablierten Arbeitsprozesse und Plattformen bietet. Als jemand, der viel Know-how in der Textilproduktion und IT mitbringt, freue ich mich besonders darauf, diese Bereiche weiterzuentwickeln und unsere Mission der Nachhaltigkeit und Innovation gemeinsam mit dem Team voranzutreiben.
Darüber hinaus konnte ich durch Gespräche mit einigen General Managern unserer Test- und Forschungsinstitute wertvolle Einblicke in die Arbeit der 17 Institute gewinnen. Im Oktober steht das nächste General Management Meeting an, bei dem ich mich darauf freue, alle General Manager persönlich kennenzulernen.
Wie würden Sie Ihren Führungsstil beschreiben und was bringen Sie persönlich in die neue Rolle bei OEKO-TEX® ein?
Ich bin kein Mensch, der radikale Veränderungen vornimmt, aber ich glaube, dass ich zusätzliche Perspektiven einbringe. Die Digitalisierung schreitet immer schneller voran, und es ist entscheidend, dass wir als Standardgeber diese Entwicklung aktiv mitgestalten. Ich habe selbst IT-Unternehmen geleitet und Software entwickelt und denke, dass mein Wissen OEKO-TEX® helfen wird, zukunftssicher aufgestellt zu sein, insbesondere in Bezug Datenmanagement aber auch auf neue Kommunikationskanäle.
OEKO-TEX® hat sich in den letzten Jahren enorm entwickelt. Im letzten Geschäftsjahr wurden über 50.000 Zertifikate ausgestellt. Worin liegt die steigende Nachfrage nach Zertifizierungen wie dem Eco Passport oder Responsible Business begründet?
Die Lieferketten in der Textil- und Lederindustrie werden immer komplexer. Unternehmen sehen sich mit steigenden Anforderungen seitens der Gesetzgeber und der Öffentlichkeit konfrontiert. OEKO-TEX® versteht sich hier als Partner der gesamten Branche. In den letzten Jahrzehnten haben wir ein modulares System entwickelt, das den Herausforderungen entlang der Lieferkette begegnet. Dieses System deckt den Input-Bereich, also die Substanzen, die in Garne, Stoffe und Tierhäute gelangen, ebenso ab wie den gesamten Produktionsprozess und die labortechnische Überprüfung der fertigen Produkte auf umwelt- und humantoxikologische Stoffe. So können Unternehmen die Bausteine entlang ihrer Lieferkette individuell zusammenstellen.
OEKO-TEX®® Eco Passport und OEKO-TEX®® Responsible Business spiegeln zwei der drängendsten Themen wider. Eco Passport richtet sich an Chemikalienhersteller für die Textil-, Leder- und Schuhindustrie und unterstützt eine umweltfreundlichere und sicherere Produktion. Durch die Einhaltung internationaler Vorschriften, wie der REACH-Richtlinie, helfen wir den Unternehmen, ihre Lieferketten global sicher zu gestalten.
Mit der Zertifizierung Responsible Business bieten wir unseren Partnern eine Management-Prozess-Zertifizierung, die auf die Einhaltung der Sorgfaltspflichten in der Lieferkette einzahlt. Damit helfen wir Unternehmen, sich auf gesetzliche Anforderungen wie das europäische Lieferkettengesetz vorzubereiten.
Wie reagiert OEKO-TEX® auf gesetzliche Anforderungen, wie das Verbot bestimmter Chemikalien, und wie unterstützt es Unternehmen bei der Vorbereitung auf neue Regelungen?
Unsere Arbeit basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, und daher begrüßen wir neue Anforderungen, die auf wissenschaftlichen Grundlagen beruhen. Sie schützen nicht nur die Umwelt, sondern auch die Unternehmen und ihre Produkte. Durch regelmäßige Stakeholder-Konsultationen und enge Zusammenarbeit mit unseren wissenschaftlichen Experten beobachten wir legislative und technische Entwicklungen, um unsere Standards frühzeitig anzupassen und unseren Partnern genügend Zeit zur Anpassung zu geben. Unser jährliches Update zu Jahresbeginn hat sich als bewährter Prozess etabliert.
Die OEKO-TEX® Organic Cotton Zertifizierung ist ein wichtiger Schritt hin zu einer nachhaltigeren Textilproduktion. Können Sie uns mehr über die Bedeutung dieser Zertifizierung erzählen?
OEKO-TEX® Organic Cotton ist ein wesentlicher Bestandteil unseres modularen Systems. Die Zertifizierung überprüft Bio-Baumwolle auf genetisch veränderte Organismen (GVO), Pestizide und andere schädliche Substanzen – und das bereits auf dem Baumwollfeld. Durch unsere Zusammenarbeit mit der IFOAM-Standardfamilie stellen wir sicher, dass der ökologische Anbau belegt werden kann. Dies ist umso wichtiger, da mit dem wachsenden Bedarf an Bio-Baumwolle auch die Anzahl von Betrugsfällen steigt. Dank unserer labortechnischen Methoden konnten wir den Grenzwert für GVOs bereits im ersten Jahr der Zertifizierung von 10% auf 5% senken. So erhöhen wir die Reinheit und der Bio Baumwolle und unterstützen unsere Partner dabei, Betrug zu verhindern.
Es gibt immer wieder die Annahme, dass kleine und mittlere Unternehmen durch die Zertifizierungskosten benachteiligt werden. Wie unterstützt OEKO-TEX® diese Unternehmen, die sich oft keine Zertifizierungen leisten können?
Unser modulares System ermöglicht es auch kleinen Unternehmen, auf bestehenden Zertifikaten aufzubauen. Dies reduziert die Kosten erheblich, da sich die Prüfaufwände und Kosten auf mehrere Akteure in der Lieferkette verteilen. Zudem können kleine Unternehmen von unserem Netzwerk aus über 35.000 zertifizierten Partnern profitieren, was ihnen beim Sourcing von Materialien und Partnern hilft.
Wie wichtig sind soziale Gerechtigkeit und ökologisches Handeln für Sie persönlich und für OEKO-TEX®?
Soziale Gerechtigkeit ist ein zentraler Aspekt unserer Strategie bei OEKO-TEX®. In meiner Position habe ich das Privileg, diese Werte voranzutreiben. Darüber hinaus spielt die Digitalisierung eine große Rolle in unserer Zukunftsplanung. Es geht darum, Informationen für alle Beteiligten in der Wertschöpfungskette zugänglich zu machen – von den Produzenten bis hin zu den Konsumenten. Auch die fortlaufende Entwicklung der Gesetzgebung bietet großes Potenzial für die Weiterentwicklung sozialer Gerechtigkeit in der Industrie.
Wie begegnen Sie denn der Kritik, dass Zertifikate nur oberflächlich Probleme lösen?
Es stimmt, dass ein einzelnes Zertifikat nicht alle Probleme lösen kann, da Lieferketten äußerst komplex sind. Aber genau aus diesem Grund haben wir unser modulares System entwickelt. Es ermöglicht Unternehmen, sich gezielt mit den relevanten Schritten in ihrer Wertschöpfungskette auseinanderzusetzen. Unsere Zertifikate und Produktlabels decken viele verschiedene Herausforderungen ab, und durch tiefgehende Tests und Audits helfen wir, Oberflächlichkeit zu vermeiden. Unsere Partner spiegeln uns regelmäßig zurück, dass dieses System ihnen hilft, nachhaltige Verbesserungen zu erzielen.
Sie sprechen viel von Digitalisierung, da gehören Soziale Medien natürlich auch dazu. Wie verbindet OEKO-TEX® durch Social Media die Brücke zu den Endverbraucher:innen?
Social Media ist für uns eine wertvolle Plattform geworden, um Verbraucher:innen direkt zu erreichen und ihnen zu ermöglichen, informierte Entscheidungen zu treffen. Mit unserem Label Check bieten wir ihnen die Möglichkeit, die Gültigkeit eines Zertifikats zu überprüfen und mehr über die Lieferkette und Produktionsprozesse zu erfahren. Die positive Resonanz in den sozialen Medien zeigt uns, wie wichtig Transparenz für die Verbraucher:innen ist, und wir werden in Zukunft verstärkt in diesen Bereich investieren.
Und wie geht OEKO-TEX® mit der Herausforderung um, in einer Branche zu agieren, die Profit über alles stellt?
Nachhaltigkeit ist kein Widerspruch zum Profit, sondern eine Voraussetzung, um langfristig erfolgreich zu sein. Wenn Unternehmen heute nur auf kurzfristigen Profit aus sind und die Umwelt oder ihre Mitarbeiter:innen vernachlässigen, werden sie in der Zukunft keine Basis mehr haben, auf der sie wachsen können. Ich habe in meiner Karriere gesehen, was passiert, wenn man Nachhaltigkeit ignoriert, und bin überzeugt, dass die Unternehmen, die diesen Aspekt ernst nehmen, auch langfristig wirtschaftlich erfolgreicher sein werden.