„Altkleider sind längst keine Spende mehr“ – Kreislaufexpertin Katja Wagner im Interview

Katja Wagner und Angelique Thummerer
Katja Wagner (links) ist studierte Textilbetriebswirtin und mit ihrer langjährigen Branchenerfahrung Expertin für die komplexen und globalen Zusammenhänge der textilen Herstellungskette. 2023 gründete sie zusammen mit der Softwareingenieurin Angelique Thummerer (rechts) die Plattform TURNS, die aufklären, intransparente Altkleiderexporte stoppen und ein neues Altkleidersystem in Deutschland etablieren will.

Die Modeindustrie produziert nicht nur Trends, sondern auch massenhaft Abfall. Während die Allgemeinheit hofft, dass ihre gespendeten Altkleider Bedürftigen zugutekommen, landen viele dieser Textilien auf Deponien. Im Gespräch erklärt Expertin Katja Wagner, was den Wendepunkt bringen könnte.

Nach dem bewährten Motto ‚aus den Augen, aus dem Sinn‘, stellen wir uns nur sehr selten die Frage, wohin unsere Altkleider denn eigentlich wandern, sobald wir sie in den Spendencontainer gesteckt haben. Die schlechte Nachricht: Was als gut gemeinte Spende beginnt, endet oft auf Deponien in Ländern ohne dafür notwendige Infrastruktur. Gleichzeitig kämpft die Recyclingindustrie mit minderwertigen Materialien, die kaum wiederverwertbar sind. Katja Wagner beantwortete auf der vergangenen Fashion Changers Konferenz 2024 die drängenden Fragen zum Wandel der Altkleiderverwertung und arbeitet mit ihrem Unternehmen TURNS nun aktiv daran, gemeinsam mit Konsument:innen sowie Unternehmen den Textilkreislauf zu verbessern. 

Müllberge aus Altkleidung, die Wüsten und Strände verschmutzen – Bilder davon gingen erst kürzlich durch die Medien und brachten dem Thema Aufmerksamkeit. Wie sieht die aktuelle Lage aktuell aus? 
Die Berichterstattung verschiedener Umweltverbände zeigt die drastischen Auswirkungen fehlender Recyclingsysteme. Der europäische Überkonsum und das System des Altkleiderexports von Second-Hand Kleidung in Ländern ohne textile Recyclingsysteme hat über die Jahre hinweg (bild)gewaltige Auswirkungen angenommen. Gleichzeitig fehlt es an objektivem Zahlenmaterial. Woher genau kommen die Textilien? Und zu welchem Prozentsatz landen sie getragen bzw. ungetragen auf den Deponien? 

Gibt es denn eine Lösung dafür?
Für mich allen voran eine: die Änderung des hier vorhandenen Altkleidersystems, sodass deutlich weniger Ware exportiert wird und die Abfallpyramide hier eingehalten wird. 

Was können wir als Konsument:innen dagegen machen? Reicht es, einfach weniger zu kaufen?
Sicherlich ist der gezügelte Konsum ein großer Hebel. Gleichzeitig benötigen wir aber auch ein neues Bewusstsein für unsere Altkleider. Die sind nämlich schon lange keine Spende mehr, sondern ein zu recycelnder Rohstoff. Das bringt Kosten für das Recycling mit sich, die getragen werden müssen. Mein Tipp, wenn man schon beim Konsum die textilen Rückgewinnungsverfahren für alle vereinfachen möchte: auf Teile mit wenigen Komponenten setzen, beispielsweise etwas aus 100% Baumwolle. Bewusster Konsum bedeutet für mich außerdem weniger Textilkauf und hochwertigere Qualitäten. Das führt dazu, dass wir den Großteil der Ware recyceln und damit eine stabile ökonomische Textilverwertungskette innerhalb Europas aufbauen können.

Fast Fashion wird oft als Haupttreiber des steigenden Textilabfalls genannt. Wie beeinflusst die kurzlebige Mode den Kreislauf der Altkleiderverwertung? 
Aus Recyclingperspektive ist das Problem der Fast Fashion die absolut geringe Qualität. Die Kosten für Sammlung, Sortierung und Faserrückgewinnung lohnen bei den minderwertigen Materialien nicht – weil kaum Fasern zurückgewonnen werden können. Gleichzeitig ist es derzeit technisch nur schwer möglich, die Faserqualität bei der Sortierung zu erkennen und somit direkt bei der Sortierung diese Ware der thermischen Verwertung zu übergeben. 

Viele Menschen spenden ihre Kleidung ja in der Hoffnung, sie werden wiederverwendet oder Bedürftigen zugeführt. Wie kann man sicherstellen, dass Altkleider verantwortungsvoll verwertet werden?
Diese Frage beschäftigt uns selbst sehr. Die kurze Antwort: derzeit gibt es für Verbraucher:innen kaum die Möglichkeit, Textilien in der Gewissheit abzugeben, dass sie entweder in Deutschland als Second Hand Ware verkauft oder recycelt werden. Die Lieferketten hinter den klassischen Altkleidersammlungen sind wenig transparent und ökonomisch herausfordernd. Mit TURNS nehmen wir Textilien direkt von Firmen bzw. deren take-back Boxen zurück. Werden hier Artikel eingeworfen, so garantieren wir 100% transparentes Recycling – damit sind wir aber die Ausnahme am Markt. 

Die Textilrecycling-Industrie wächst, aber viele Materialien wie Mischfasern sind schwer wiederverwertbar. Welche Technologien oder Lösungen sehen Sie als vielversprechend, um diese Herausforderung anzugehen?
Zwei Arten von Recycling sind als einhergehende Lösungen sinnvoll. Das mechanische Recycling ist hier bereits weit entwickelt und bietet aktuell die besten Möglichkeiten zur regionalen Faserrückgewinnung, insbesondere von Polyester/Cotton. Das chemische Recycling ist ein etwas sensibler Prozess, der aber hochwertigere Qualitäten hervorbringen kann. Aktuell sind hier einige Firmen im Bau von Pilotanlagen und in der Skalierung. Wir sehen beide Recyclingarten als nötig und miteinander kombinierbar. 

Sie haben erwähnt, dass der Überkonsum ein zentrales Problem darstellt. Wie kann man den Trend zur ‚Wegwerfmode‘ durchbrechen?
Höhere Qualitäten erzeugen, die damit auch höhere Preise mit sich bringen. Das mindert den Kauf neuer Produkte und zwingt die Käuferschaft zu bewussteren Entscheidungen. Zudem sollten Recyclingkosten extra ausgewiesen werden, um ein Bewusstsein für die Entsorgungskosten zu schaffen. 

Was halten Sie von aktuellen Initiativen großer Modemarken wie Rücknahmesysteme oder Recycling-Programme?
Das ist ein guter und wichtiger Schritt nach vorne. Wir müssen allerdings zwischen der Altkleidersammlung bei Verbraucher:innen und der Sammlung bei Unternehmen (Mitarbeiterkleidung, unverkäufliche Ware etc.) unterscheiden. Für die Sammlung bei Verbraucher:innen sehe ich eine große Verantwortung bei den Kommunen, denen das Abfallrecht unterliegt. Bevor jedes Unternehmen selbst Waren sammelt, könnte das öffentlich bereits akzeptierte System für Altkleidercontainer genutzt werden. Die Sammelweise ist ja grundsätzlich sinnvoll, nur das Verwertungssystem dahinter nicht. Somit sollte der Fokus auf der korrekten Verwertung, weniger auf der Neuerfindung eines Sammelsystems liegen. Für im Unternehmen anfallende Mengen benötigt es sicherlich neue Prozesse, wie wir sie als TURNS auch mit unserer Kundschaft bereits umsetzen.  

Zum Schluss eine Zukunftsfrage: Wie stellen Sie sich die Altkleiderverwertung in 10 oder 20 Jahren vor? 
Unsere Mission ist klar: wir wollen Textilrecycling in Deutschland zum Standard machen und recycelte Textilfasern in die Lieferketten der deutschen Brands integrieren. Der Gesetzgeber muss seinen Beitrag zur Systemänderung leisten. Heißt: Textilrecycling fördern, thermische Verwertung höher besteuern, Second-Hand Exporte regulieren, über Vernichtungsverbote von Neuware den Übereinkauf von Textilien senken. Die Textilunternehmen sollten gemäß aktueller Recyclingmöglichkeiten ihre Kollektionen erstellen, Recyclingfasern tatsächlich nutzen und absolut minderwertige Qualitäten aus dem Sortiment streichen. Und: Bewusstsein schaffen. Mit TURNS GoCircular legen wir zum ersten Mal die aktuellen Recyclingkosten für ein Stück Textil offen. Das ist für viele absolut interessant und ermöglicht eine Diskussionsgrundlage. 

faserkreislauf.turns.de