Brunello Cucinelli Solomei AI – Künstliche Intelligenz trifft auf sinnliche Erfahrung

Brunello Cucinelli
Brunello Cucinelli während der 'Humanism and Artificial Intelligence" Pressekonferenz im Sommer in Mailand. Bild: Alessandro Levati/Getty Images for Brunello Cucinelli

Mailand im Sommer 2024. Designer Brunello Cucinelli hat zu einer Pressekonferenz ins Piccolo Teatro Strehler geladen. Die Stadt glüht unter der Hitze des italienischen Sommers, die einen regelrecht in die kühle Umarmung einer seiner klimatisierten Boutiquen ruft. Doch Grund der Einladung ist nicht etwa eine neue Kollektion, stattdessen stellt Cucinelli der Öffentlichkeit sein neuestes Projekt vor: Solomei AI. Eine innovative Website, unterstützt von Künstlicher Intelligenz, die das kreative Potenzial des Menschen mit der Kraft von KI vereinen soll.

Als Brunello Cucinelli die Bühne betritt, ist seine Vorfreude spürbar. Für ihn ist seine Humanistische Künstliche Intelligenz ein Herzensprojekt. Ebenfalls anwesend sind seine Tochter Carolina Cucinelli, der Architekt Massimo de Vico sowie Francesco Bottigliero in seiner Rolle als Chief of Humanistic Technology. Gemeinsam
präsentieren sie ein Projekt, das nicht weniger will, als eine Brücke zu schlagen zwischen künstlicher Intelligenz und ästhetischem Erleben.

Brunello Cucinelli
Carolina Cucinelli, Francesco Bottigliero, Brunello Cucinelli sowie Massimo de Vico/ Bild: Alessandro Levati/Getty Images for Brunello Cucinelli

Die Entwicklung von Solomei AI begann im Spätsommer 2021. Eine interdisziplinäre Gruppe von Wissenschaftler:innen aus Mathematik, Ingenieurwesen und Philosophie stellte sich der Herausforderung, die besten Eigenschaften künstlicher und menschlicher Intelligenz in einer Website zu vereinen. Gleichzeitig sollten die humanistischen Werte von Brunello Cucinelli in das Projekt Eingang finden. Keine leichte Aufgabe, aber allemal ein spannendes, innovatives und in dieser Form bislang einzigartiges Projekt. Cucinelli spricht leidenschaftlich, wie man es von ihm kennt. Er lobt die inspirierende Zusammenarbeit mit den Projektbeteiligten. Auf einem großen Bildschirm wird in Echtzeit die neue Website präsentiert, die nicht als Ersatz für die bestehende gedacht ist, sondern als Erweiterung, die bisherige Grenzen von Websites
aufbrechen und Nutzern eine völlig neue Form des virtuellen Erlebens ermöglichen soll. Das vertraute Konzept von Seiten und Menüführung wurde überwunden und durch in Echtzeit generierte Inhalte ersetzt, die sich an den individuellen Fragen der Besucher:innen orientieren, ähnlich wie wir es von ChatGPT kennen. Durch die
Möglichkeit, jederzeit ausformulierte Fragen stellen zu können, wird die Seite individuell erlebbar. Den Pressevertreter:innen im Saal wird schnell klar: klassische, statische Website-Strukturen könnten auf diese Weise perspektivisch überflüssig beziehungsweise abgelöst werden.

Brunello Cucinelli

Doch nicht nur technologische Raffinesse soll Solomei AI auszeichnen, auch die humanistischen Werte und der philosophische Überbau, der die Marke Brunello Cucinelli ausmacht, sind Stützpfeiler des Projekts. Auf diese Weise sollen nicht zuletzt die Risiken bei der Verwendung von KI minimiert werden. Die Ideen und
Wertvorstellungen der griechischen Antike sind deshalb der vorgegebene Rahmen für die künstliche Intelligenz. Zu den philosophischen Inspirationsquellen und Website-Strukturgebern von Solomei AI gehören unter anderem Theano (der Architekt), Thamyr (der Maler) und Callimachus (der Philologe), wobei Callimachus eine Vielzahl von Agenten unter sich vereint. Callimachus steht im Zentrum von Solomeo AI. Er liest, versteht, lernt, schreibt, übersetzt und kommuniziert. Er ist die Instanz, die Inhalte überprüft, rekonstruiert, modifiziert, korrigiert und verbessert – immer durch die dialogische Interaktion mit den Website-Besucher:innen. Seine Arbeit in Echtzeit wird im unsichtbaren Hintergrund unterstützt von folgenden Denkern, die das Team rund um Brunello Cucinelli Agenten nennt:

  • Socrates: Er forscht im Dialog nach den Wünschen der Besucher.
  • Demosthenes (die Identität): Er führt einen möglichst natürlichen Dialog mit den
    Besuchern.
  • Dioscuri (der Schutz): Ein Agentenpaar, das den Dialog zwischen der Website und
    den Besuchern schützt und die Integrität der Gespräche sicherstellt, Stichwort
    Datenschutz.

Thamyr, der Maler, ist der ästhetische Agent und damit die zweite Hauptkomponente der Plattform. Er erschafft die visuellen Elemente, die jeder Besucher sieht. Thamyr erfasst die Intentionen der Nutzer:innen und passt das Erscheinungsbild der Website fortlaufend an. Konkret bedeutet das, dass die Website von den den Erwartungshaltungen und Fragestellungen der Nutzer:innen gestaltet wird. Theano, der Architekt, ist der dritte und letzte Agent von Solomei AI. Theano fungiert als technologischer Motor des Projekts, indem er die Ergebnisse von Callimachus und Thamyr zusammenführt, um die Intentionen und Erwartungen der
Besucher noch präziser zu erfüllen.

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Das klingt nicht nur hochkomplex, es ist es auch. Doch von Stillstand keine Spur. Solomei AI ist zwar zunächst als eine philosophische und immersive Erfahrung angelegt, doch das Unternehmen plant bereits, KI zukünftig auch in den Online-Handel einzubinden. Die Idee ist, dass die KI individuelle Einkaufserlebnisse ermöglichen soll. Noch reagiert die Solomeo-KI auf modische Fragen ausweichend. Sie kann Fragen zur Markenhistorie und ihrem Gründer beantworten, vermeidet jedoch bewusst Antworten auf rein kommerzielle Anfragen, um die Ethik der Marke und die menschlichen Elemente hinter ihren Luxusangeboten zu betonen. Doch das soll sich in Zukunft ändern. In nicht allzu ferner Zukunft werden Kund:innen um Stilinspiration bitten können und von der KI daraufhin passende Vorschläge undProduktlisten erstellt bekommen. Auch wenn das, so viel wird an diesem Vormittag in Mailand deutlich, für Cucinelli nicht das Hauptanliegen des Projekts ist.

Solomei AI befindet sich derzeit noch im Beta-Status, zeigt aber eindrucksvoll, wie ästhetisch und sinnlich die Verbindung von menschlich geschaffenen Inhalten und künstlicher Intelligenz aussehen kann. Dieses Konzept basiert auf Cucinellis Überzeugung, dass Technologie, wenn sie von humanistischen Prinzipien geleitet
wird, Kreativität fördern und die Integrität menschlicher Arbeit bewahren kann. Inhaltlich schöpft Solomei AI aus klassischen Idealen und der Weisheit antiker Kulturen und strebt danach, die technologische Zukunft mit dem kulturellen Reichtum der Vergangenheit in Einklang zu bringen. Das Projekt gibt uns einen ersten Eindruck, wie eine mögliche Zukunft in diesem Bereich aussehen könnte und wie harmonisch sich künstliche Intelligenz in Webseiten implementieren lässt, um Nutzererfahrungen zu einem fast sinnlichen Vergnügen zu gestalten. Niemand versteht die Idee hinter Solomei AI besser als Francesco Bottigliero. Sein Jobtitel ist lang: Chief of Humanistic Technology at Foro delle Arti and Brunello Cucinelli. Seine Vision für das Projekt Solomei AI hat er uns in einem Interview erläutert.

Was inspirierte Sie dazu, eine Website zu kreieren, die unseren Umgang mit dem Internet völlig neu denkt und bekannte Darstellungs- und Interaktionsformen aufbricht?
Die initiale Inspiration fußte auf der Beobachtung, dass wir bei Webseiten noch heute Standards verwenden, die vor über 30 Jahren in unsere Branche eingeführt wurden. Gleichzeitig hat uns unsere Entwicklung als Menschheit gelehrt, dass wir die Dinge stetig verändern müssen. Es gibt einen wichtigen Satz, den unser Freund Reid Hoffman, der Gründer von LinkedIn, oft gesagt hat: Wir als Menschen gestalten die Technologie, und die Technologie gestaltet ebenso die Menschen. Schon allein deshalb wollten wir diesen 30 Jahre alten Standard bei Webseiten aufbrechen. Vergleichen wir sie doch mal mit den neuesten sozialen Netzwerken. Die Art von Engagement und Erfahrung, die diese Plattformen den Nutzer:innen bieten, ist völlig anders als das, was Websites derzeit können. Websites sind im Vergleich viel statischer. Bei Websites wird versucht, alles genau zu definieren, man entscheidet, wo welche Inhalte angezeigt werden, und es steckt enorm viel Arbeit dahinter. Gleichzeitig sind Plattformen wie TikTok viel unmittelbarer, flüssiger und dynamischer. Sie basieren
auf einer sehr leistungsstarken Personalisierung, die Websites in diesem Maße bislang nicht bieten. Deshalb ist die Anziehungskraft, die TikTok auf die jüngere Generation ausübt, offensichtlich viel größer als bei Webseiten. Sie funktionieren immer auf dieselbe Art: Menü, Kopfzeile, eine Startseite und eine Suchmaschine, die meistens nicht richtig funktioniert. Wir dachten uns, warum versuchen wir nicht, das zu ändern, warum nicht innovativ sein? Wir haben uns überlegt, dass es großartig wäre, wenn Webseiten die Anliegen der Nutzer:innen verstehen und ihnen personalisierte Inhalte auf sehr effektive Weise anbieten könnten, ähnlich wie TikTok es tut. Diese Ansätze klangen gut, also fragten wir uns, wie wir sie umsetzen können. Da kam uns die Idee: Vielleicht kann uns die KI dabei helfen.

Die Implementierung von KI erweckt bei den Nutzer:innen den Eindruck eines ästhetischen, fast sinnlichen Erlebnisses. War das ein weiterer Schwerpunkt des Projektes?
Vor allem haben wir uns in einem ersten Schritt gefragt, wie die KI unsere Arbeit beeinflussen würde. Für uns war die Prämisse, dass der Schaffensakt und die zu fällenden Entscheidungen immer von Menschen ausgehen sollten. Menschen sollten diejenigen sein, die erschaffen. Die KI sollte in erster Linie dabei unterstützen und
Vorschläge machen, optimieren und ausführen. Wir glauben, dass auf diese Weise die menschliche und künstliche Intelligenz gut zusammenarbeiten können. Wir sehen KI als Begleiter, nicht als Ersatz für uns Menschen. Wir wollten mit Solomei AI beweisen, dass wir beides zusammenbringen können: menschliche Kreativität und KI, etwa durch Zeichnungen. Zeichnen ist vielleicht eine der schönsten Arten, wie Menschen ihre Kreativität ausdrücken. Man sitzt vor einer leeren Seite und beginnt, das, was man im Kopf hat, zu Papier zu bringen. Warum also nicht menschliche Kreativität in Form von Zeichnungen mit einer KI-basierten Engine kombinieren?

Das ist vor allem deshalb interessant, weil der Trend ja dahin geht, über KI Kreativprozesse zu beschleunigen. War das also eine Voraussetzung bei der Arbeit an Solomei AI?
Für die Webseiten-Präsentation in Mailand haben wir uns dazu entschieden, mit einem Musiker zusammenzuarbeiten und Piero Salvatori angefragt, der ein Freund von uns ist, mit klassischem musikalischen Hintergrund. Als wir ihm vorschlugen, mit KI zu arbeiten, war seine erste Reaktion: „Auf keinen Fall. Das ist das Böse. KI wird mich eines Tages ersetzen.“ Er war in Sorge, dass die KI perspektivisch seine Rolle übernimmt. Wir haben versucht, ihn zu überzeugen, ihm gesagt, dass er die Musik schreiben, die Melodie und die Harmonien festlegen würde. Und dass nur er letztendlich entscheiden würde, welche Orchestrierung zum Einsatz kommt. Die KI sollte lediglich Begleiter sein, ihn unterstützen. Er fand das interessant und beschloss,
es auszuprobieren. Er bat die Maschine zum Beispiel darum, eine Klangfolge zu erzeugen, die an Wind erinnerte, weil er den Wind als Begleiter der Melodie wollte. Am Ende des Projektes fühlte er sich durch den Einsatz von KI gestärkt, nicht geschwächt.

Die Angst vor KI ist ein wichtiger Punkt. Kann Solomei AI dabei helfen, Ängste zu reduzieren und für eine größere Akzeptanz sorgen?
Das ist meine Hoffnung. Ich bin kein Gegner von Technologie, ganz im Gegenteil. Ich glaube fest an Innovation, aber ich versuche auch, mir der Bedeutung menschlicher Werte bewusst zu bleiben. Es gibt ein wichtiges philosophisches Konzept, das ich in letzter Zeit oft erwähne: das lateinische Wort Pietas. Es lässt sich im Englischen vielleicht mit Mercy (Barmherzigkeit) übersetzen, aber das trifft es nicht ganz. Pietas kommt von Pius und bedeutet so etwas wie Stille oder Ruhe. Wenn wir uns also diese neuen Technologien ansehen und sie nutzen, sollten wir das Gleichgewicht bewahren. Wir sollten den Wandel annehmen, aber immer darauf achten, unsere Werte nicht zu gefährden. Pietas ist für mich die Fähigkeit, menschlich zu bleiben und zu
vergeben, was extrem wichtig ist. Auch Demut und in manchen Fällen Mut gehören dazu. Diese Werte haben unsere Evolution als Spezies geprägt und beeinflussen ständig unser Verhalten. Diese Werte sollten nicht vergessen werden; sie müssen immer im Vordergrund stehen.

Brunello Cucinelli

Wagen wir einen Ausblick: Wie individuell kann die Nutzung von Solomei AI in Zukunft sein? Was wird das Nutzungserlebnis ausmachen?
Da sich die Website noch in der Beta-Phase befindet, arbeiten wir kontinuierlich an Verbesserungen. Wir verwenden keine Cookies und verzichten auf Google Analytics, stattdessen nutzen wir ein internes Log-System, um nachzuvollziehen, was passiert. Diese Einblicke helfen uns, die Seite zu optimieren. Ein paar interessante Erkenntnisse haben wir bereits gewonnen. In Zukunft wollen wir unser Nutzungskonzept auch auf
unseren E-Commerce-Bereich anwenden. Das wird natürlich ein viel umfangreicheres Projekt. Die dialogische Erfahrung und die dynamische Benutzeroberfläche, bei der Inhalte immer wieder unterschiedlich angezeigt werden, kommen bei unseren Nutzer:innen jedenfalls sehr gut an. Solomei AI ist ja noch nicht besonders groß. Sie hat eine begrenzte Menge an Inhalten. Dennoch ist das Engagement, das wir sehen, höher als bei herkömmlichen Websites. Das ist ein Beweis dafür, dass diese Art von Benutzeroberfläche in gewisser Weise ansprechender für die Besucher ist. Ich glaube, dass wir in drei bis fünf Jahren keine unterschiedlichen Webseiten für unsere Kund:innen mehr bauen werden, es wird eine einheitliche Lösung geben.

Welches sind die nächsten großen Schritte von Brunello Cucinelli hin zu dieser einheitlichen Lösung?
Der nächste Schritt wäre definitiv die Anwendung auf unseren E-Commerce. Unser E-Commerce läuft derzeit sehr gut, dank der unglaublichen Arbeit unseres Teams, dank der Inhalte, die wir produzieren und natürlich dank der wunderschönen Produkte, die wir verkaufen. In einer Branche, in der viele E-Commerce-Websites Schwierigkeiten haben, wächst unsere Website stetig und ist profitabel. Dass nicht alle kommerziellen Websites erfolgreich sind, liegt meiner Meinung nach teilweise am traditionellen Ansatz, den sie verfolgen: Du generierst Traffic, leitest diesen auf deine Website, hast einen Funnel und versuchst, die Besuche in Bestellungen umzuwandeln. Am Ende analysierst du dann das Verhältnis zwischen Verkaufsvolumen und Werbeinvestitionen. Ein Schlüsselproblem unserer Branche ist dabei die durchschnittliche Konversionsrate. Diese liegt bei weniger als 1 Prozent, was bedeutet, dass 99 Prozent der Besucher:innen deine Website nur ansehen möchten, aber nichts kaufen. Also versucht die Branche, die Konversionsrate zu optimieren, erfüllen
mit diesem Ansatz aber die Erwartungen von 99 Prozent der Besucher:innen nicht. Sie wollen die Kollektion entdecken und sich inspirieren lassen. Wir wollen das Erlebnis durch die Ideen von Solomei AI verbessern – also durch den Verzicht auf herkömmliche Seitenstrukturen, das Verständnis der Nutzer:innenabsicht und die
Echtzeit-Personalisierung. Wenn über 90 Prozent der Besucher:innen nicht da sind, um eine Bestellung aufzugeben, sollten wir ihnen trotzdem ein konsistentes Erlebnis bieten: durch Tools und spannende Inhalte. Auch wenn sie nicht sofort etwas kaufen möchten.

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